Tarifflucht und Prekarisierung: Zur Situation der Beschäftigten im Einzelhandel
28. August 2015 | Marion Salot
Der Einzelhandel ist nach dem Bereich „Gesundheit und Soziales“ die zweitgrößte "Frauen-Branche". Der harte Konkurrenzkampf hat hier dazu beigetragen, dass sich der Druck auf die Löhne immens erhöht hat und prekäre Beschäftigungsverhältnisse zunehmend existenzsichernde Arbeitsplätze verdrängen. Dies sei nachfolgend am Beispiel der Bundesländer Bremen und Niedersachsen aufgezeigt.
Konsumverhalten und politische Entscheidungen verschärfen den Wettbewerb im Einzelhandel
Die Wettbewerbssituation im Einzelhandel wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Eine wichtige Rolle spielen hier beispielsweise die Einkommensverhältnisse. In den vergangenen zehn Jahren hat sich hier die äußerst zurückhaltende Reallohnentwicklung bemerkbar gemacht (siehe Abbildung 1). Bis 2009 lagen die Lohnsteigerungen deutlich unter der Inflationsrate.
Abbildung 1: Entwicklung der Reallöhne in Deutschland. Quelle: Statistisches Bundesamt
Ab 2010 ist zwar eine Trendwende bei der Lohnentwicklung zu beobachten, die auch die Kaufkraft positiv beeinflusst, allerdings hat sich dafür in den vergangenen Jahren der Boom des Internetshoppings negativ auf den Umsatz im stationären Einzelhandel ausgewirkt (Nitt-Drießelmann 2013:39). Insgesamt liegt der Anteil des Online-Handels am Gesamtumsatz gegenwärtig zwar „nur“ bei etwa 11 Prozent, er variiert zwischen den verschiedenen Einzelhandelskategorien allerdings stark. Bei Textilien und Schuhen ist er mit knapp 20 Prozent am höchsten, eine ähnlich große Bedeutung hat er auch im Computer-Bereich sowie bei Büchern und Medien. Im Lebensmittelbereich beträgt er hingegen noch nicht mal ein Prozent. Prognosen zufolge wird er aber bis zum Jahr 2020 auch in diesem Bereich auf 10 Prozent ansteigen (www.statista.com).
Trotz der verhaltenen Lohnentwicklung und der steigenden Bedeutung des Internet-Handels haben die Verkaufsflächen in Deutschland zugenommen. Dies hängt damit zusammen, dass der Einzelhandel immer stärker auf Angebotsformate setzt, die eine große Fläche benötigen. Fast die Hälfte des Flächenzuwachses ist auf die Zunahme der Einkaufszentren zurückzuführen. So wurden beispielsweise 2011 in Oldenburg die Schlosshöfe eröffnet und damit mehr als 12.000 qm zusätzliche Verkaufsfläche direkt in der Innenstadt geschaffen. Auch in Bremen war in den vergangenen Jahren ein deutlicher Zuwachs an Verkaufsflächen zu beobachten: Im Jahr 2008 wurde nicht nur das „Mediterraneo“ in Bremerhaven eröffnet, sondern auch die „Waterfront“ in Bremen, die immerhin eine Verkaufsfläche von 44.000 Quadratmetern aufweist. Gegenwärtig wird außerdem für die Bremer Innenstadt ein neues Einkaufszentrum geplant.
Da ein Zuwachs an Verkaufsfläche nicht automatisch auch zu einem Zuwachs an Umsatz führt, birgt diese Entwicklung die Gefahr, dass die Flächenproduktivität, also der Umsatz pro Quadratmeter, tendenziell abnimmt. Hierdurch erhöht sich der Preisdruck auf die Unternehmen.
Der Wettbewerb im Einzelhandel hat sich aber auch durch die Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes verschärft. Seit 2007 dürfen die Geschäfte im Land Bremen und in Niedersachsen – wie in vielen anderen Bundesländern – an den sechs Werktagen 24 Stunden geöffnet haben („6 x 24-Regelung“). Um attraktiv für die Kunden zu sein, ergänzen die Einzelhändler den Preiswettbewerb um einen Wettbewerb hinsichtlich möglichst langer Öffnungszeiten. Ebenso wie ein Zuwachs an Verkaufsflächen führt aber eine Erweiterung der Öffnungszeiten ebenfalls nicht automatisch zu höheren Umsätzen. Vielfach steigen hierdurch lediglich die Kosten.
Durch die veränderten Rahmenbedingungen hat die Zahl der kleineren, inhabergeführten Geschäfte abgenommen. Gleichzeitig konnten große Ketten, allen voran Discounter, ihren Marktanteil im Verdrängungswettbewerb erheblich ausbauen. Mittlerweile ist der Konzentrationsprozess so weit fortgeschritten, dass ein Prozent der gesamten Unternehmen im deutschen Einzelhandel 63 Prozent des Gesamtumsatzes erwirtschaften. Auch der Löwenanteil der Beschäftigten verteilt sich auf wenige Großunternehmen: Fast 50 Prozent der im Einzelhandel tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten in den 650 größten Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten (Brutzki/Saeed 2012: 8).
Der verschärfte Wettbewerb im Einzelhandel wird vor allem über den Preis ausgetragen. Der Kostendruck in der Branche nimmt hierdurch erheblich zu. Um dies aufzufangen, wurde massiv an der Personalkostenschraube gedreht – mit den entsprechenden Folgen für die Beschäftigten. Eine wichtige Strategie war hierbei die Schaffung einer flexiblen, schlanken und kostengünstigen Personalstruktur. Dies erfolgte durch das Ersetzen von existenzsichernden Vollzeitstellen durch Teilzeit- und Minijobs. Auch in Bremen und Niedersachsen war eine solche Entwicklung zu beobachten.
Beschäftigungsentwicklung in Bremen und Niedersachsen
Zwischen 2007 und 2014 hat die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in Bremen und Niedersachsen zwar deutlich zugenommen, allerdings ging dies zu Lasten existenzsichernder Beschäftigungsverhältnisse, da gleichzeitig Vollzeitstellen verloren gegangen sind (siehe Abbildung 2). So sind in Niedersachsen in diesem Zeitraum mehr als 16.500 zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse entstanden. Das entspricht einem Zuwachs von 8,2 Prozent. Allerdings sind gleichzeitig 12.000 Vollzeitstellen abgebaut worden (minus 10 Prozent), während fast 30.000 Teilzeitstellen geschaffen wurden (plus 39 Prozent). In Bremen sind gleichzeitig knapp 2.800 Teilzeitjobs entstanden, aber etwa 500 Vollzeitstellen abgebaut worden. Nachdem die Minijobs vor allem in den ersten Jahren nach den Hartz-Reformen stark angestiegen sind, stagnieren sie im Einzelhandel auf hohem Niveau – und zwar sowohl in Niedersachsen als auch in Bremen (vgl. Abbildung 2 und Abbildung 3).
Abbildung 2: Beschäftigungsentwicklung im Einzelhandel (2007 bis 2014 in Prozent). Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit
Der deutliche Zuwachs an Teilzeitstellen im Einzelhandel hängt damit zusammen, dass Geschäftsführungen vorwiegend Beschäftigte mit einem geringen Stundenumfang einzusetzen, um möglichst flexibel zu sein. In vielen Bereichen wird mit einer so dünnen Personaldecke geplant, dass der Ausfall einer Vollzeitkraft – etwa durch Krankheit oder durch Urlaub - kaum kompensiert werden kann. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben dazu geführt, dass Bremen im Vergleich mit anderen Bundesländern inzwischen den niedrigsten Anteil an Vollzeitstellen im Einzelhandel aufweist. Hier sind mittlerweile ein Drittel der Einzelhandelsbeschäftigten Minijobber. Von den mehr als 28.000 Beschäftigten im Einzelhandel hat nur noch jede vierte Frau und jeder zweite Mann eine Vollzeitstelle. In Niedersachsen sieht die Beschäftigungsstruktur ähnlich aus (Abbildung 3).
Abbildung 3: Beschäftigungsstruktur im Einzelhandel (30.6.2014). Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit
Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten: Katalysator für die Prekarisierung
Dass die fast vollständige Freigabe der Ladenöffnungszeiten im Jahr 2007 den Prekarisierungsprozess noch weiter befeuert hat, belegt ein Blick auf die Beschäftigungsentwicklung in den unterschiedlichen Einzelhandelsbereichen in den ersten vier Jahren nach der Gesetzesänderung (Abbildung 4). In der Stadt Bremen fällt zunächst der deutliche Zuwachs an Teilzeitstellen in der Rubrik „Einzelhandel mit sonstigen Gütern“ ins Auge. Hier werden Einzelhändler mit Textilen, Schuhen, Schmuck und Ähnlichem erfasst. Dieser Zuwachs ist unter anderem auf die bereits erwähnte Eröffnung des Einkaufszentrums „Waterfront“ zurückzuführen.
Abb. 4: Beschäftigungsentwicklung im Bremer Einzelhandel (Bremen-Stadt), 2007 bis 2011. Quelle: Statistisches Landesamt Bremen
Von den verlängerten Ladenöffnungszeiten haben am stärksten Supermärkte, Discounter und SB-Warenhäuser Gebrauch gemacht. Sie werden in der Rubrik „Einzelhandel mit Waren verschiedener Art“ erfasst. Gerade diese Einzelhändler haben in ihrer Personalpolitik verstärkt Vollzeitstellen durch Mini- und Teilzeitjobs ersetzt. Im Einzelhandel mit Nahrungs- und Genussmitteln, also bei den kleinen Lebensmittelfachgeschäften, ist die Beschäftigung hingegen insgesamt abgebaut worden. Dies kann mit der steigenden Marktmacht und Präsenz von Supermärkten und Discountern in Zusammenhang stehen.
Bis 2014 hat sich der Trend zur Teilzeitbeschäftigung weiter fortgesetzt. Am Beispiel Niedersachsens zeigt sich, dass vor allem im Discounter- und SB-Markt-Bereich („Einzelhandel mit Waren verschiedener Art") der Anteil an Vollzeitstellen inzwischen besonders gering ist (Abbildung 5). Er liegt hier nur noch bei etwa 25 Prozent und ist damit deutlich niedriger als in den anderen Einzelhandelsbereichen, die nicht in dem gleichen Umfang auf die Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes reagiert haben.
Abbildung 5: Beschäftigungsstruktur im Einzelhandel in Niedersachsen. Quelle: Statistisches Landesamt Bremen
Im Einzelhandel haben aber nicht nur Teilzeitstellen an Bedeutung gewonnen. Während der Zuwachs bei den Minijobs seit einiger Zeit stagniert, wurde vermehrt auf Leiharbeit und Werkverträge zurückgegriffen. In welchem Umfang dies erfolgt ist, ist statistisch nicht zu ermitteln. Interviews mit Betriebsräten und Gewerkschaftern lassen aber den Schluss zu, dass dies in vielen Betrieben mittlerweile gängige Praxis ist. In einigen Fällen hat der verstärkte Einsatz von Leiharbeitern oder Werkverträgen sogar zu einem Abbau der Stammbelegschaft geführt, der wiederum eine Verkleinerung und Schwächung des Betriebsrates zur Folge hatte. Dies verdeutlicht, dass der Prekarisierungsprozess auch jenseits der messbaren Datenlage zu einer schleichenden Erosion der Arbeitsbedingungen und der Mitbestimmung beiträgt. Denn: Je schwächer der Betriebsrat wird, desto schwieriger ist es auch, die Interessen der Belegschaft durchzusetzen.
Grauzone Werkvertrag
Werkverträge werden im Einzelhandel häufig für das Verräumen von Waren, Lagerarbeiten, den Kassenbetrieb oder Inventuren vergeben. Die Einarbeitung und die Zeiterfassung erfolgen nicht über den Einsatzbetrieb beziehungsweise über den Auftraggeber. Häufig sind die Betriebsräte des Einsatzunternehmens weder über die Anzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer informiert, die im Rahmen des Werkvertrags eingesetzt werden, noch über die absolvierten Arbeitsstunden, die Eingruppierung oder das Einkommen. Die Werkvertragsbeschäftigten haben demzufolge keine Ansprechpartner in ihrem Einsatzbetrieb.
Der zuständige Arbeitgeberverband Instore und Logistik Services (ILS, ils-verband.de) stellt die Branche folgendermaßen dar:
Es ist ein eigenständiges Dienstleistungsgewerbe mit rund 100.000 Beschäftigten entstanden, das mit hohen Qualitätsansprüchen der Kunden seine Aufgaben auch im Sinne der Verbraucher erfüllt. Die mehr als 100 Unternehmen der Instore Logistik Branche tragen durch ihre Leistung dazu bei, effektivere und effizientere Prozesse im Handel zu implementieren und eine verbraucherfreundliche Preisgestaltung zu ermöglichen.
Die „verbraucherfreundliche Preisgestaltung“ wirkt sich auch auf die Bezahlung der Beschäftigten aus. Genaue Aussagen über die Stundenlöhne der Beschäftigten bei Werkvertrags-Unternehmen sind zwar schwer zu treffen, eine Orientierung gibt allerdings der vom ILS und der "Gewerkschaft" DHV abgeschlossene Tarifvertrag. Dieser sieht einen Stundenlohn von 6,63 in Westdeutschland und 6,12 Euro in Ostdeutschland vor. Zum Vergleich: Nach dem Tarifvertrag der Gewerkschaft ver.di würden Beschäftigte für diese Tätigkeiten einen Stundenlohn von 9,25 Euro beziehen. In einem Branchenbericht des ILS wird darauf hingewiesen, dass es sich bei 70 bis 80 Prozent der hier Beschäftigten aufgrund des hohen Flexibilitätsbedarfs und der kurzen Einsatzzeiten um Minijobber und Minijobberinnen handelt. Eingesetzt werden diese Beschäftigten in vielen Einzelhandelsketten, wie Rewe oder Real. Rossmann hat sogar bestätigt, in jeder zweiten Filiale auf Werkvertragsnehmer zurückzugreifen.
Die Einführung des Mindestlohns wird sich gerade in dieser Branche bemerkbar machen. Gegenüber dem hier geltenden Tarifvertrag beinhaltet er eine Lohnerhöhung von 28 Prozent im Westen und 39 Prozent im Osten. Der Arbeitgeberverband rechnet mit „einer drastischen Marktbereinigung“, weil sich die hier angebotenen Dienstleistungen deutlich verteuern. Außerdem wird sich „der Trend zu längeren Arbeitszeiten weg vom Minijob verstärken“ (ils-verband.de).
Einkommensentwicklung und Tarifbindung
Wie stark sich der Druck auf die Löhne im Einzelhandel durch die verlängerten Öffnungszeiten erhöht hat, haben die Arbeitgeberverbände auch dadurch belegt, dass sie 2013 außer in Hamburg in ganz Deutschland alle Entgelt- und Manteltarifverträge gekündigt haben. Als Folge standen in der Verhandlungsrunde 2013 nahezu alle Aspekte des Arbeitslebens zur Diskussion, insbesondere aber die Zuschlagsregelung bei Überstunden, Spät-, Nacht- und Sonntagsarbeit. Auch wenn dieser von verdi als „Generalangriff auf die Arbeitsbedingungen“ gewerteter Antritt der Arbeitgeberseite abgewendet werden konnte, verdeutlicht dieser Schritt, dass viele Einzelhandelsgeschäfte dem Kostendruck, der durch die Spätöffnungen entstanden ist, nicht gewachsen sind. Es ist davon auszugehen, dass weitere Versuche, die Personalkosten – und damit auch die Löhne - zu senken, folgen werden.
Diese Entwicklung ist vor allem deshalb problematisch, weil das Einkommensgefüge im Einzelhandel verglichen mit anderen Branchen bereits jetzt weit unter dem Durchschnitt liegt. Neben dem Gastgewerbe, der Leiharbeitsbranche und den Wach- und Sicherheitsdiensten gehört der Einzelhandel deutschlandweit bereits jetzt zu den Branchen mit den niedrigsten Arbeitsentgelten. So liegt das Einstiegsgehalt des Verkaufspersonals in Vollzeit selbst in tarifgebundenen Betrieben nur bei gut 1.500 Euro brutto. Wird berücksichtigt, dass ein Großteil der Beschäftigten nur in Teilzeit arbeitet, erklärt sich der geringe Anteil an existenzsichernden Arbeitsplätzen. Indem sie der Tarifbindung den Rücken kehren, versprechen sich immer mehr Unternehmen dieser Branche Wettbewerbsvorteile im kostengetriebenen Konkurrenzkampf: Alleine zwischen 2000 und 2011 ist der Anteil der Beschäftigten, die in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten, in Westdeutschland von 70 auf 54 Prozent und in Ostdeutschland von 43 auf 32 Prozent gesunken – und er wird sicherlich weiter fallen (El-Sharif 2013). Nicht nur die weiterhin anhaltende „Tarifpause“ bei der Warenhauskette Karstadt ist hier ein besorgniserregendes Signal. Auch der Metro-Konzern hat sich aktuell öffentlich über die hohen Personalkosten beklagt, die seiner Supermarkttochter Real durch die noch bestehende Tarifbindung entstehen. So hat Metro-Chef Olaf Koch erst kürzlich betont, dass Real mit seiner derzeitigen Kostenstruktur langfristig nicht mehr wettbewerbsfähig ist, da viele Konkurrenten bereits aus dem Tarifvertrag ausgestiegen sind (Reuters 2015). Bei Real sind deutschlandweit 37.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.
Angesichts der Versuche der Arbeitgeberseite, Beschäftigungsverhältnisse zu destabilisieren, wächst im Einzelhandel auch der Anteil der Niedriglohnempfängerinnen und -empfänger. Eine Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Linkspartei zum Thema „Lohndumping im Einzelhandel und die Verantwortung der Politik“ vom 28.05.2013 zufolge ist der Anteil der Niedriglohnempfänger im Einzelhandel seit 2001 unter den Frauen von 31 auf 36 Prozent im Jahr 2010 angestiegen. Unter den männlichen Beschäftigten war der Sprung sogar noch größer (von 18 auf 28 Prozent). Jede/r dritte Beschäftigte erhält weniger als zehn Euro pro Stunde. Bis zur Einführung des Mindestlohns verdiente sogar mehr als jeder Fünfte weniger als 8,50 Euro (Deutscher Bundestag 2013). Hierbei sind die über Werkverträge Beschäftigten noch nicht enthalten.
Die niedrigen Löhne im Einzelhandel haben auch Folgen für die Altersversorgung. Dies untermauert eine von verdi in Auftrag gegebene Befragung des Hamburger Einzelhandels. Hier gehen zwei Drittel der Beschäftigten davon aus, dass sie von ihrer Rente nicht werden leben können (Kuhlemann/Lattekamp 2013: 13).
Was ist zu tun?
Hinsichtlich der Beschäftigungsverhältnisse befindet sich der Einzelhandel gegenwärtig an einem Scheideweg. Wird jetzt keine klare Grenze gegen Tarifflucht und Lohndumping gezogen, entwickelt sich die zweitgrößte Frauenbranche endgültig zu einem reinen Niedriglohnsektor ohne eine reelle Chance auf einen existenzsichernden Arbeitsplatz. An einigen Stellen ist die Bundesregierung gefragt, Korrekturen vorzunehmen, beispielsweise hinsichtlich der Minijobs, Leiharbeit und Werkverträge. Der Mindestlohn wird an einigen Stellen zwar den schlimmsten Formen des Lohndumpings entgegenwirken, dies reicht aber nicht aus, um das Gehaltsgefüge im Einzelhandel insgesamt spürbar zu verbessern. Dass auf Bundesebene mit dem „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ die Hürden für die Einführung der Allgemeinverbindlichkeiten von Tarifverträgen (AVE) abgesenkt wurden, ist ausdrücklich zu begrüßen. Hier muss jetzt geprüft werden, wie diese Regelungen auf den Einzelhandel angewendet werden können. Allerdings erfordert die Allgemeinverbindlichkeitserklärung auch eine Zustimmung des Arbeitgeberverbandes. Die ist zumindest gegenwärtig auf Bundesebene nicht in Sicht (Reuters 2015).
Aber auch auf Landesebene gibt es Handlungsmöglichkeiten:
(1) Das Ladenschlussgesetz: Es gibt Spielraum nach unten
Um den durch die Freigabe der Ladenöffnungszeiten erhöhten Wettbewerbsdruck zu bremsen, sollte die Politik eine erneute Einschränkung der Ladenschlusszeiten an Werktagen in Erwägung ziehen. Es gibt durchaus Bundesländer, die nicht den Weg der „6 x 24-Regelung“ beschritten haben. Außer in Bayern gelten auch im Saarland noch moderate Öffnungszeiten. In beiden Bundesländern dürfen Verkaufsstellen an Werktagen von 6 bis 20 Uhr geöffnet sein. In Rheinland-Pfalz sind die Ladenöffnungszeiten werktags zumindest auf 6 bis 22 Uhr beschränkt.
(2) Quo vadis Innenstadt? Für eine bedarfsgerechte Ansiedlungspolitik
Die Entwicklung im Einzelhandel und die Attraktivität der Innenstädte sind zwei Themen, die eng miteinander verknüpft sind. Um einen Wettlauf um Verkaufsflächen nicht weiter anzuheizen, sollte hier die Schaffung zusätzlicher Verkaufsflächen mit Vorsicht und nach Bedarf betrieben werden. Auf keinen Fall sollte sie auf das "Abgreifen" von Kunden aus dem jeweils anderen Bundesland oder aus benachbarten Kommunen zielen. Wie die Beispiele Oldenburg und Vegesack zeigen, führt die Eröffnung neuer Einkaufszentren nicht automatisch zu einer Attraktivitätssteigerung der Innenstädte, sondern kann auch zu einem Ausbluten des bestehenden Einzelhandelsbesatzes beitragen.
(3) Qualifizierungsoffensive starten
Um die Konkurrenzfähigkeit des stationären Einzelhandels gegenüber dem Internet-shopping zu stärken, ist die Beratungskompetenz der Beschäftigten ein wichtiger Faktor. Da die Entwicklungsperspektiven für den stationären Einzelhandel sich deutlich verbessern, wenn er auch im Internet präsent ist, gibt es außerdem im Hinblick auf die „Online-Kompetenz“ Qualifizierungsbedarf. Umgekehrt laufen qualifizierte Beschäftigte weniger Gefahr, in ein prekäres Arbeitsverhältnis gedrängt zu werden, und es verbessern sich die Möglichkeiten für eine höhere Eingruppierung.
Trotz dieser Vorteile weist der Einzelhandel im Vergleich zur Gesamtwirtschaft eine unterdurchschnittliche Bereitschaft zur Weiterbildung auf. Deshalb sollte in Form einer „konzertierten Aktion“ und unter Einbeziehung von Beschäftigten, Einzelhändlern, Politik, Wirtschaftsförderung, Kammern und Weiterbildungsträgern eine „Qualifizierungsoffensive Einzelhandel“ gestartet werden. Hierbei sollte nach Wegen gesucht werden, wie gerade dem mittelständischen und kleinen Einzelhandel eine solche Weiterqualifizierung der Mitarbeiter ermöglicht werden kann.
(4) Qualitätssiegel für den Einzelhandel
Um die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel grundsätzlich verbessern zu können, ist es notwendig, die Konsumentinnen und Konsumenten für dieses Thema zu sensibilisieren. verdi in Hamburg hat beispielsweise im Rahmen der Kampagne „Handeln ausgezeichnet“ ein Qualitätssiegel für den Einzelhandel eingeführt. Hier werden Unternehmen herausgestellt, die bestimmte Kriterien „Guter Arbeit“ erfüllen. Unter anderem wird hier berücksichtigt, wenn sie ihre Beschäftigten nach Tarif bezahlen, ausbilden und in Arbeitgeberverbänden organisiert sind. Außerdem wurde ein „Einkaufsführer für faire Arbeit in Hamburg“ erstellt, an dem sich Kundinnen und Kunden bei ihren Einkaufsgewohnheiten orientieren können. Auch andere Bundesländer sollten über so eine Auszeichnung nachdenken, denn auf diesem Weg rückt das Thema „Arbeitsbedingungen im Einzelhandel“ stärker in das Bewusstsein der Kundinnen und Kunden.
(5) Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen auch auf Länderebene diskutieren
Sofern es auf Bundesebene nicht gelingt, in absehbarer Zeit eine AVE einzuführen, um der Tarifflucht ein Ende zu setzen, sollten die Bundesländer einen solchen Schritt in Erwägung ziehen. Ohne die Zustimmung der Arbeitgeberseite ist die Einführung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung allerdings auch auf Länderebene nicht möglich.
(6) Bundesländer und Kommunen sollten an einem Strang ziehen
Sowohl eine bedarfsgerechte Ansiedlungspolitik als auch eine Einschränkung der Ladenöffnungszeiten und vor allem auch die Einführung einer AVE könnten zu einer Entschärfung des Wettbewerbs im Einzelhandel beitragen und somit auch den Prekarisierungsprozess „entschleunigen“. Diese Strategien sind aber nur dann sinnvoll umsetzbar und wirksam, wenn sich die Bundesländer und Kommunen diesbezüglich abstimmen.
Literaturverzeichnis
- Bundesagentur für Arbeit (2015): Arbeitsmarkt in Zahlen, Beschäftigte am Arbeitsort (AO) in der Wirtschaftsgruppe "Einzelhandel" nach der Klassifikation der Wirtschaftszweige von 2008 (WZ08), Hannover, März 2015
- Brutzki, Ute/Dr. Saeed, Sandra (2012): Branchenreport – Die Situation von weiblichen Beschäftigten im Handel, ver.di (Hrsg.), Stuttgart 2012.
- Deutscher Bundestag (2013): Drucksache 17/13647 vom 28.05.2013: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Drucksache 17/13408: Lohndumping im Einzelhandel und die Verantwortung der Politik.
- DGB Index Gute Arbeit: http://dgb-index-gute-arbeit.de
- El-Sharif, Yasmin (2013): Staat zahlt jährlich 1,5 Milliarden Euro für Niedriglöhne im Handel; Spiegel-Online vom 4. Juni 2013.
- Kuhlmann, Peter / Lattekamp, Heike (2013): Arbeitsbedingungungen im Handel – So beurteilen die Beschäftigten des Groß- und Einzelhandels die Lage in Hamburg, ver.di Hamburg (Hrsg.), Januar 2013.
- Nitt-Drießelmann, Dörte (2013): Einzelhandel im Wandel, Hamburgisches Weltwirtschafts Institut (HWWI), Hamburg, Mai 2013.
- Reuters (2015): Ver.di warnt Real: bei Abkehr vom Tarifvertrag drohen Streiks, Handelsblatt 6.2.2015.
Der Artikel erschien zuerst in der Broschüre "Gute Arbeit in Niedersachsen und Bremen", gemeinsam herausgegeben von Arbeitnehmerkammer Bremen, DGB-Region Bremen-Elbe-Weser und DGB-Bezirk Niedersachsen - Bremen - Sachsen-Anhalt.
Marion Salot ist Referentin für regionale Strukturpolitik bei der Arbeitnehmerkammer Bremen.